Der Philosoph Dieter Mersch diskutiert im MozartLabor über die Grenzen von Musik

von Susanna Khoury (erschienen in Ausgabe 05/2024)

Nicht Reagenzgläser waren Mozarts Werkzeug, sondern Töne. Sein Experimentierfeld: der Mensch. Er ist unübertroffen darin, in seiner Musik alles Menschliche zu erspüren, existenzielles Da-Sein und So-Sein in Musik zu übersetzen. Im elften MozartLabor ist Mozarts Forschungsleistung an der menschlichen Seele das Gravitationszentrum. Dann wird sein Werk wieder Ausgangspunkt für künstlerische und gesellschaftliche Fragen an die Gegenwart. An vier Tagen treffen sich Künstler:innen, Stipendiat:innen und Expert:innen aus Wissenschaft, Kulturmanagement und Medien, um in Vorträgen, Podiumsdiskussionen sowie offenen Proben die Themen dieser Saison in den Blick zu nehmen. In einem Podiumsgespräch mit dem Philosophen Prof. Dr. Dieter Mersch wird der Spielraum zwischen Dogma und Freiheit ausgelotet. Das Ringen um Antworten auf Fragen was Musik darf, kann und muss auf dem Programm stehen. Leporello-Chefredakteurin Susanna Khoury hat in einem Vorgespräch Prof. Mersch schon einmal ein paar Antworten entlockt. Mit auf dem Podium am 3. Juni um 9 Uhr im Kloster Himmelspforten in Würzburg sind auch Katharina Thoma, Professorin an der Musikhochschule in Würzburg und Komponist Florian Willeitner.

Susanna Khoury (SK): Musik ist grenzenlos ... oder doch nicht? Was darf Musik?
Prof. Dieter Mersch (DM): „Musik darf alles, solange sie nicht das Trommelfell zum Platzen bringt. Karl-Heinz Stockhausen hat ein Helikopter-Streichquartett komponiert (1995), John Cages größter Wunsch war es, alle neun Beethoven Sinfonien auf einmal zu hören, 1952 hat er das Tacet 4‘33‘‘ uraufgeführt, das nur aus Stillen und zufälligen Hintergrundgeräuschen besteht,1965 hat Alvin Lucier Percussion-Instrumente lediglich durch seine Hirnströme gesteuert, und Nam June Paik hat seine großen Fernseh-Installationen als musikalische Kompositionen verstanden. So gesehen gibt es keine Grenzen des Musikalischen; sie liegen nicht einmal außerhalb des Klangs.“

SK: Apropos außerhalb des Klangs ... „Musik fängt dort an, wo Worte enden“, hat ein ganz großer aus der Literatur, nämlich Johann Wolfgang von Goethe, gesagt. Was kann Musik in dieser Hinsicht?
DM: „Musik kann in unsere Emotionen eingreifen und unsere momentane Gestimmtheit umstimmen; so vermochte Pythagoras einen Jüngling durch phrygische Klänge zur Raserei zu bringen und durch lydische ihn wieder zu beruhigen. 2014 haben die Einstürzenden Neubauten durch schreiend lärmende Tonkulissen versucht, den Ersten Weltkrieg zum Klingen zu bringen, und die politische Propaganda lässt uns durch rhythmisch skandierte Lieder für die Revolution oder ihr Gegenteil marschieren. Musik kann uns motivieren und einschläfern, sie kann die Seelen rühren und aufbegehren lassen; sie kann Aggressionen schüren und besänftigen; sie vermag kathartisch zu wirken und uns disziplinieren, aber all dies gilt nur für den zeitlichen Augenblick ihrer Aufführung.“

SK: In der Eingangs-Antwort sagten Sie, Musik sei grenzenlos. Gibt es dennoch etwas, was Musik nicht kann?
DM: „Musikstücke können jede Art moralischer Wirkung erzielen und uns tanzend in Bewegung versetzen, doch vermögen sie uns nicht über ihren Moment hinaus nachhaltig zu anderen Menschen zu machen. Sie können ethische Gefühle wecken, erzieherisch intervenieren, Therapien begleiten, uns zu amoralischen Handlungen verleiten, den politischen Aktivismus unterstützen und uns in ein Verhältnis zu uns selbst bringen, nur können sie eines nicht: uns moralisch bessern. Ethik und Politik sind von Ideen und Visionen abhängig, die an Inhalte gebunden sind, welche von Musik bestenfalls indirekt adressiert werden können.“

SK: Und auch, wenn durch Musik alles Vorstellbare möglich zu sein scheint. Über welche Grenze sollte Musik nicht gehen. Was darf Musik nicht?
DM: „Mit ihren eigenen Mitteln des Klangs, der Stille und des Ausdrucks darf Musik alles Mögliche, nur nicht verletzen, zerstörerisch wirken, direkte Gewalt ausüben, foltern und in den Wahnsinn treiben.“

Herzlichen Dank für diese interessanten Antworten, lieber Professor Mersch!


Das Interview mit dem in Köln geborenen Philosophen Prof. Dr. Dieter Mersch führte Leporello Chefredakteurin Susanna Khoury.


www.mozartfest.de

Bildnachweis: Dita Vollmond

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