Mit der Uraufführung „Das schweigende Klassenzimmer“ leistet das Mainfranken Theater Erinnerungsarbeit an der deutsch-deutschen Geschichte

von Michaela Schneider (erschienen in Ausgabe 05/2024)

Schweigen. Für jene Menschen, die beim ungarischen Volksaufstand im Oktober 1956 ums Leben kamen. Schweigen. Für fünf Mädchen und 15 Jungen, die wegen ihrer Haltung die große Politik in ihre kleine Schule in der DDR zwangen. Schweigen. Für all jene, die versprachen und versprechen, „jedem Angriff auf die Freiheit und der Tyrannei Widerstand zu leisten, wo auch immer sie auftreten mögen“. Und Schweigen als Auftakt zum Dokumentar-Theaterabend „Das schweigende Klassenzimmer“ auf der Probebühne am Mainfranken Theater Würzburg, der berührend mitnimmt in die deutsch-deutsche Geschichte.

Er basiert auf den Aufzeichnungen des 2018 verstorbenen Dietrich Garstka, der selbst einer der Storkower Schüler war. Die außergewöhnliche Uraufführung in Würzburg ist ein Paradebeispiel für lebendige Geschichtsvermittlung und geht zurück auf die Initiative von Schauspieldirektorin Barbara Billy, die gemeinsam mit Regisseurin Anna Stiepani die Bühnenfassung erarbeitet hatte. Entstanden ist sie in Kooperation mit dem Institut für Deutschlandforschung der Ruhr-Universität Bochum und mit Förderung durch die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

Und darum geht es: Als die Schüler der 12. Klasse der Oberschule im kleinen Storkow in der Mark Brandenburg im November 1956 über den verbotenen Westberliner Sender RIAS Nachrichten vom brutal und blutig niedergeschlagenen Volksaufstand in Ungarn erfahren, solidarisieren sie sich in einer Schweigeminute während des Unterrichtes mit den Aufständischen. Die DDR-Obrigkeit befindet: Es handle sich um eine Konterrevolution, der „Rädelsführer“ müsse gefunden werden. Schüler werden verhört, Eltern unter Druck gesetzt und es wird mit zukunftsvernichtenden Konsequenzen für ganze Familien gedroht. Die Klasse allerdings hält zusammen – und wird in Folge komplett vom Abitur ausgeschlossen.

Die Jugendlichen entscheiden sich für einen drastischen Schritt: Sie verlassen Heimat und Familien, um aus der DDR in die Bundesrepublik zu fliehen und dort, in Freiheit, zum Abitur anzutreten. Das sechsköpfige Schauspielteam – Nils David Bannert, Nils van der Horst, Daria Lik, Isabella Szendzielorz, Eva-Lina Wenners und Georg Zeies – verkörpert verschiedene Rollen und schafft es auf Anhieb, viel Sympathie für die jungen Leute aus Storkow zu wecken: die 1945 eingeschult, der erste Jahrgang der „neuen Zeit“ nach Kriegsende waren; die weniger aus Überzeugung, sondern „weil sonst nichts vorwärtsginge“, Mitglied der FDJ wurden; denen in den Geschichtsbüchern Stalin in Allgegenwärtigkeit vermittelt wurde; und die sich für den Westen interessierten, weil sie merkten, dass der DDR-Rundfunk „verschwieg und log, wie wir fanden“. Gleichzeitig vermittelt die 90-minütige Produktion unglaublich viel historischen Hintergrund.

Mit einem Tageslichtprojektor werden historische Fotografien, Protokolle und Zeitdokumente an die Bühnenwände geworfen. Als Bühneninventar (Bühnen- und Kostümbild: Anna Wörl) reichen Stühle, eine Art Pult, eine Schreibmaschine, Papierstapel, eine Kleiderstange und ein altes Radio, um das Publikum einerseits mitzunehmen in die Storkower Schule und andererseits in die Hinterzimmer des perfiden DDRMachtapparats. Herausragend gelingt es, die Geschichte nicht ferne Geschichte sein zu lassen, sondern Emotionen zu wecken: Als die fünf Schweigeminuten beginnen, wird das Publikum selbst zur Schulklasse und spürt am eigenen Leib, wie lang und bedeutend diese fünf Minuten für die Schüler im Jahr 1956 gewesen sein müssen. Als das Ministerium das Urteil über die Schüler spricht, wird die Stimme der DDR-Diktatur überlaut; beklemmende Klänge (Musik Adrian Sieber) ertönen und beschleunigen den Herzrhythmus; Laubbläser verwandeln sich in Waffen, verwirbeln Papierstapel und zerstören die Lebensträume einer ganzen Schulklasse.


Bildnachweis: Nik Schölzel

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